Fly, Eagle, Fly
Kapitel 1: Jetsam
Feuer, Erde, Wasser, Luft. Das Feuer einer Explosion; die Erde, die auf ihn zuflog; das Wasser des weiten Meeres und der Himmel über der Küste.
* * *
Am nächsten Morgen wurde viel Strandgut an die Küste gespült.
Melanie McAllister, ihres Zeichens Tierärztin und von der Phoenix Foundation angestellt um die Fortschritte bei der Ansiedlung von Weißkopfseeadlern in dem Gebiet zu überprüfen, hatte wütend das Mikrofon des Funkgerätes auf den Tisch geworfen. Das Gerät war tot. Immer war irgend etwas mit dem Gerät, daß ihre einzige Verbindung mit der Außenwelt darstellte. Kinkstown, eine kleine Ansiedlung mit vielleicht 400 Einwohnern, war zwar nur acht Meilen von ihrer Hütte entfernt, aber bis zu ihrer Behausung war kein Telefon gelegt worden. Immerhin wohnte sie in einem, wenn auch kleinen, Naturschutzgebiet und dort hatten Telefonmasten nichts zu suchen.
Nun gut, sie konnte es nicht ändern. Sie hatte zwar viel Ahnung von der Natur und ganz besonders von ihren Schützlinge, den Weißkopfseeadlern, aber die Technik war ihr schon immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Es war doch wohl auch genug, daß sie die Geräte, die sie benötigte bedienen konnte. Und außerdem war das Gespräch auch nicht so wichtig gewesen. Ihre Vorräte würden noch für viele Wochen reichen, und sie würde es doch wohl schaffen für diese Zeit auf ihren morgendlichen Kaffee verzichten zu können, den sie bei ihrem letzten Einkauf vergessen hatte und den sie bei dem Gemischtwarenladen in Kinkstown über Funk hatte bestellen wollen.
Sie griff sich ihre Jacke und ihre Fernglas und machte sich auf den Weg zum Strand. Ein kräftiger Spaziergang würde ihr helfen ihr Wut abzureagieren.
Sie war etwa eine halbe Stunde unterwegs als sie bei dem Treibgut, das sie bei dem Sturm von vor zwei Tagen am Strand angesammelt hatte, eine Bewegung bemerkte. Als sie sich auf zehn Meter genähert hatte, erkannte sie plötzlich, was das war.
Sie legte den letzten Rest des Weges rennend zurück.
Zwischen einem großen Brett und einem alten Autoreifen lag auf seinem Bauch eine Mann. Er lag halb auf den Brett, so als ob er versucht hätte sich an diesem festzuklammern, aber nicht mehr die nötige Kraft hatte aufbringen können. Er mußte schon eine Weile dort gelegen haben, da der Wind seine Kleidung, eine zerrissenes Hemd und eine beiges Hose, getrocknet hatte.
Mel füllte als erstes seinen Puls. Er war nicht gerade kräftig, dafür aber regelmäßig. Dann untersuchte sie ihn kurz, ob sie ein größere äußere Wunde oder einen Knochenbruch feststellen konnte. Bis auf eine Platzwunde an der Schläfe, die ziemlich böse aussah, konnte sie auf die Schnelle nichts finden. Die Platzwunde war wahrscheinlich auf für die tiefe Ohnmacht, in der sich der Mann befand, verantwortlich.
Mel setzte sich auf den Autoreifen und überlegte, was sie tun sollte. Hilfe zu holen oder um Hilfe zu rufen schied aus. Sie hatte keinen Wagen, das Funkgerät war ja defekt und weit und breit war sie der einzige Mensch. Sie glaubte auch nicht, daß der Mann in Lebensgefahr schwebte. Sie mußte also selbst etwas tun.
Entschlossen stand sie auf. Aus dem Gerümpel, das am Strand herumlag, mußte sich doch etwas brauchbares bauen lassen. Zwei etwa gleich lange Stangen boten sich als Holme für eine Schleppbahre an und das Brett, auf dem der Mann lag, würde die Bahre vervollständigen.
Eine Stunde später war sie mit ihrer Last bei ihrer Hütte angekommen. Der Mann war während der ganzen Aktion kein einziges Mal aufgewacht und rührte sich auch nicht, als Mel ihn auf ihr Bett wuchtete. Sie holte den Erste Hilfe Kasten und fing an den Mann zu verarzten.
Dann stellte sie sich auf eine lange Wartezeit ein, bis er von alleine wieder aufwachen würde.Nach einigen Stunde bekam der Mann Fieber. Er wälzte sich auf dem schmalen Bett hin und her, als ob er von schlechten Träumen geplagt würde. Mel tat ihr bestes um den Mann die Stirn zu kühlen und ihn ruhig zu halten.
Etwa fünf Stunden später ging das Fieber wieder herunter und der Mann verfiel in einen tiefen erholsamen Schlaf.
* * *
Jemand hatte ihn umbringen wollen. Warum, wußte er nicht. Er wußte nur, daß derjenige jetzt tot war. Er sah auf den Mann, der vor ihm auf dem Boden lag, herunter. Er trug eine Uniform. Es war eine olivgrüne amerikanische Uniform, wie man sie bei Einsätzen trug. Er selbst, stellte er fest, trug ebenfalls eine Uniform. Aber diese war erstens beige und zweitens sah sie mehr aus wie eine Paradeuniform. Auch die Abzeichen waren anders. Doch dies beschäftigte ihn im Moment nicht so sehr wie die Waffe, die er in der Hand hielt und mit der er anscheinend diesen Mann getötet hatte. Er mußte hier weg!
Das nächste, das er sah, war, daß er in einem Jeep saß, der mit hoher Geschwindigkeit durch die Gegend fuhr. Und daß ausgerechent auf der Motorhaube dieses Jeeps ein Mann lag, der sich verzweifelt an der Windschutzscheibe festhielt. Er versuchte, das Gesicht des Mannes genauer zu erkennen. Er wußte, daß er ihn kannte. Aber auch hier konnte er sich nicht daran erinnern, woher. Der Wagen machte wilde Schlenker, aber der Mann auf der Motorhaube blieb wo er war. Er ließ sich einfach nicht locker. In den Augen des Mannes stand Panik. Er hatte den Eindruck, als ob der Mann selbst nicht so genau wußte, was er auf dieser Motorhaube eigentlich zu suchen hatte.
In diesem Moment kam der Jeep mit einem solchen Ruck zum Stehen, daß der Mann, dem Gesetz der Massenträgheit folgend, vorne vom Wagen fiel. Er stellte erstaunt fest, daß er es war, der auf die Bremse getreten hatte. Er saß am Steuer dieses Wagens! Während der Mann vor ihm sich aufrappelte, stellte er fest, daß dieser auch eine grüne Armee-Uniform trug - wie der Mann, der ihn hatte umbringen wollen. Dieser Mann war eine Gefahr. Er mußte ihn töten!
Er setzte mit dem Wagen zurück, um genügend Anlauf zu bekommen. Ein Gefühl des Triumphes überkam ihn. Er würde siegen. Er trat das Gaspedal bis auf das Bodenblech durch. Der Wagen schoß mit durchdrehenden Reifen nach vorne. Der Mann blieb wie angewurzelt stehen. Erst im letzten Moment, Bruchteile von Sekunden, bevor ihn der Jeep ihn berühren konnte, sprang er mit einem großen Satz zur Seite. Der Wagen schoß über den Rand einer Klippe. Über ihm war der Himmel, unter ihm war - nichts! Er schrie einen Namen. Dann wurde es schwarz.
* * *
Am nächsten Morgen fiel das Licht der aufgehenden Sonne direkt auf den Sessel, in dem Mel irgendwann im Laufe der Nacht eingeschlafen war. Mel spürte die wärmenden Strahlen der Sonne und wachte auf. Für einen kurzen Moment war sie irritiert, daß sie nicht, wie üblich, in ihrem Bett aufgewacht war und schaute sich verwirrt um. Doch dann kamen die Erinnerung an ihren gestrigen 'Fund' und die darauf folgende Nacht zurück.
Der Mann schien immer noch tief zu schlafen. Mel hatte nun zum ersten Mal so richtig Gelegenheit ihn in Ruhe zu betrachten, wie er so dalag und schlief.
Er war nicht unbedingt der Typ Mann, der in einer Menge auffallen würde und ihn zu beschreiben war nicht leicht. Aber, ohne recht zu wissen warum, fand Mel ihn doch sehr attraktiv - obwohl er sein Haar, nach Mels Meinung, zu kurz, zu militärisch, geschnitten hatte. Sie zog bei Männern Haarlängen vor, die sich mehr in der Gegend des Kragens bewegten.
Sie war so in ihren Gedanken versunken, daß sie erst einen Moment benötigte, um zu bemerken. daß sie im Gegenzug nun von braunen Augen gemustert wurde.
"Oh, hallo, wie geht es ihnen?", stammelte sie fast etwas verlegen.
"Wo bin ich hier?"
Der Mann hatte eine angenehme Stimme, die aber auch den Eindruck erweckt, daß sie, wenn sie wollte, auch sehr befehlend klingen könnte.
"Sie sind hier in meiner Hütte. Im 'High Cliffs National Park'. Ich habe Sie am Strand gefunden und hierher gebracht."
Erst in dem Moment, als sie es sagte, bemerkte sie, wie dämlich sich das anhören mußte. 'Ich habe Sie am Strand gefunden' . Bei Gott, eine blödere Formulierung ist Dir wohl auf die Schnelle nicht eingefallen. Doch der Mann schien sich daran nicht zu stören.
"Wie bin ich dahin gekommen?", fragte er nur und sah sich um.
"Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Aber wenn Sie mir ihren Namen sagen, dann werde ich heute noch in die Stadt gehen und schauen, ob Sie vielleicht vermißt werden. Sie müssen ja irgendwie von einem Schiff hier vor der Küste sein, oder so etwas in der Richtung."
Der Mann runzelte die Stirn. "Meinen Namen?"
"Na, wie Sie halt heißen."
Etwas wie Verzweiflung kroch in die Augen des Mannes. Er runzelte die Stirn noch heftiger und schüttelte den Kopf. Dann sagte er mit einer Stimme, der man die aufkeimende Panik anhören konnte:
"Ich weiß meinen Namen nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Wer bin ich?"
Die letzten Worte waren fast geschrien.
Mel wußte, daß sie schnell etwas tun mußte um die Situation zu entschärfen. Panik würde jetzt niemanden helfen. Sie setzte sich neben ihn auf das Bett und legte ihre Hand auf seinen Arm. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob ihre Finger unter Strom stehen würden. Sie hatte ihn doch schon vorher berührt, und nie hatte sie dabei dieses Gefühl gehabt!
Sie mußte einmal tief durch atmen. Ganz ruhig, Mel. Sei ganz ruhig. Nur jemand, der sie sehr gut kannte, hätte das leichte Zittern in ihrer Stimme bemerkt.
"Wie wäre es, wenn ich Ihnen jetzt erst einmal eine Tasse heißen Tee mache. Sie denken derweil darüber nach, was Ihnen alles einfällt und heute Nachmittag gehen wir zusammen nach Kinkstown zu Doc Richmont. Natürlich nur, wenn Sie sich fit genug dafür fühlen, es sind immerhin acht Meilen Fußmarsch."
Während sie in die Küche ging um das Wasser aufzusetzen, stand der Mann auf. Mel hatte für ihn einige Kleidungsstücke zurechtgelegt, die, als sie vor eineinhalb Jahren hier angefangen hatte, von ihrem Vorgänger zurückgelassen worden waren. Manchmal war es doch ganz gut, daß sie einfach nichts wegwerfen konnte.
Als der Mann zehn Minuten später in die Küche kam, wirkte er schon deutlich ruhiger. Er setzte sich in den Stuhl, der für Mels seltenen Gäste reserviert war und schaute ihr zu, wie sie den Tee aufbrühte.
"Ich würde Ihnen gerne Kaffee anbieten, aber leider habe ich ihn bei meinem letzten Einkauf vergessen. Und zum Nachbestellen bin ich auch nicht gekommen, da mein Funkgerät mal wieder den Geist aufgegeben hat. Ich hoffe, Sie mögen Tee."
"Das hoffe ich auch. Ich kann mich nicht erinnern."
Inzwischen war der Anflug von Panik in seiner Stimme verschwunden, und er hörte sich fast schon resigniert an. Nachdem der Tee für drei Minuten gezogen hatte, goß Mel ihn in zwei Keramikbecher und setze sich dann mit den beiden Bechern an den Tisch.
"Sie können sich also an nichts erinnern?"
"Es ist seltsam. Ich erinnere mich ganz verschwommen an Gesichter. Aber keine Namen." Er zuckte mit der Schulter. "Apropos Namen. Wie heißen Sie denn?"
"Oh, Entschuldigung. Ich habe ganz vergessen mich vorzustellen. Mein Name ist Dr. Melanie McAllister. Ich arbeite hier für die Phoenix Foundation im Rahmen ihres Artenschutzprogramms. Ich bin Tierärztin."
"Phoenix Foundation?"
"Sagt der Name Ihnen etwas?"
Der Mann schüttelte in Frustration den Kopf. "Irgendwie ja. Aber ich kann nicht sagen woher oder warum."
"Vielleicht fällt es Ihnen wieder ein, wenn ich Ihnen etwas darüber erzähle. Ich habe einmal gehört, daß, wenn jemand an Amnesie leidet, man ihn mit vertrauten Dingen in Kontakt bringen soll. Das dadurch die Erinnerung angeregt wird."
Für einen Moment zogen sich die Braune des Mannes zusammen. Er griff mit der Hand an seinen Kopf und rieb an seiner Stirn, so als ob er dadurch seine Erinnerungen aus seinem Kopf herausreiben könnte.
Das Gesicht eines blonden Mannes, der eine Wunde an der Schläfe hatte. Ein Ausdruck in seinen Augen, der dem, den er selbst vorhin im Spiegel gesehen hatte, nicht unähnlich war. Ein Name zu dem Gesicht.
Doch bevor der Mann am Tisch nach dem Namen in seiner Erinnerung greifen konnte, war er wieder verschwunden.
Mel hatte das Verhalten des Mannes beobachtet und im großen und Ganzen auch richtig interpretiert. Doch sie spürte, daß es besser wäre im Moment nicht näher darauf einzugehen. Sie begann von der Phoenix Foundation zu erzählen.
* * *
Am Nachmittag hatten sie sich darauf geeinigt, daß sie ihn mit dem Namen Mike anreden sollte. Sie hatte John Doe vorgeschlagen, der Namen, der traditionsgemäß immer an Leute vergeben wurden, die ihr Gedächtnis verloren hatte. Aber Mike stellte fest, daß er den Namen John auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er konnte jedoch beim besten Willen keinen Grund dafür angeben, warum das so war.
Außerdem hatte er gebeten mit dem Besuch bei Doktor Richmont noch ein wenig zu warten. Auch hier konnte er keinen Begründung geben, doch Mel hatte auch nicht so sehr das Bedürfnis danach.
Ihr war klar, daß er, wenn er einmal in Kinkstown war, wahrscheinlich bald zu seiner Familie, oder was auch immer, gehen würde und sie ihn dann für lange Zeit nicht mehr sehen würde. Und das war etwas, daß sie irgendwie nicht wollte. So ging sie am Nachmittag statt dessen mit ihm zum Kliff, wo eines der Weißkopf-seeadlerpärchen ihr Nest gebaut hatten.
Sie sagte sich, daß sie ja auch Morgen noch in die Stadt gehen könnten. Oder Übermorgen.
* * *
Die folgenden eineinhalb Wochen war die schönsten in ihrem Leben. Mike hatte kein einziges Mal Interesse daran gezeigt, in die Stadt gehen zu wollen. Und Mel hatte keine Einwände dagegen. Er hatte außerdem ihr Funkgerät so weit repariert, daß sie ihre Bestellung aufgeben konnte und das Gerät nicht gleich danach wieder den Geist aufgab. Seine Anwesenheit bei ihr zu melden, kam ihr nicht in den Sinn.
An einem Abend in der Hütte hatten sie ein Gespräch darüber, ob er denn nicht gerne zu seinen Verwandten zurück wolle. Ob vielleicht jemand da wäre, der auf ihn warten würde. Aber Mike schmetterte den Gedanken ab.
"Mel, ich habe das Gefühl, daß ich noch nie in meinem Leben so zufrieden war. Ich möchte einfach nicht weg von Dir. Ich gebe zu, ich würde schon ganz gerne wissen, wie ich wirklich heiße, aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß mir die Person, die ich früher einmal war, bevor ich Dich kennen gelernt habe, nicht gefällt. Es gefällt mir hier bei Dir und ich möchte nie mehr hier weg."
Damit beugte er sich zu ihr herüber und küßte sie zart auf den Mund. Mel erwiderte ohne zu zögern den Kuß.
Alles hätte perfekt sein können. Wenn da nicht Mikes Alpträume gewesen wären. Ein oder zweimal in jeder Nacht wachte er schweißgebadet auf. Manchmal schrie er dabei einen Namen, aber Mel konnte ihn nie verstehen und Mike konnte, oder wollte, sich nicht erinnern.